„Einem Kind etwas zu verraten, was es selbst herausfinden könnte, das ist nicht nur schlechtes Lehren, es ist ein Verbrechen." Mit diesem Aphorismus von Freudental wird ähnlich wie bei dem eingangs erwähnten Zitat von Comenius eine zentrale Änderungsstrategie in der Schule deutlich: die Reduktion von lehrerzentrierten Unterrichtsarrangements zu Gunsten von lernerzentrierten Konzepten. Selbstverständlich geht es nicht um eine generelle Abschaffung lehrerzentrierter Unterrichtssequenzen, sondern um eine angemessene Mischung aus z. B. strukturiertem Lehrervortrag, selbst organisierten Lernsequenzen sowie Phasen mit forschendem Lernen bzw. kooperativem Lernen. Der Fokus auf der Lernarbeit bringt dann auch ein neues Lernverständnis mit sich: Es geht beim Lernen nicht mehr um die Überwindung peinlicher Defizite, sondern um die aktive Arbeit für die eigene Zukunftsfähigkeit.

Wer nicht sagen kann, was er in den letzten Wochen gelernt hat oder in den kommenden zu lernen beabsichtigt, setzt sich bei diesem Lernverständnis dem Verdacht aus, seine Zukunftsfähigkeit zu vernachlässigen!

Konkretisieren wir das am Beispiel der Förderung von kooperativem Lernen (Green 2002) in Schule und Lehrerbildung. Green (ebd.) verlangt von seinen Schülern und Schülerinnen Entwicklungsarbeit in Richtung auf drei Lernziele: Aneignung von Bildungsinhalten, Förderung des Gemeinschaftsgefühls und Förderung der Selbstentwicklung. Zu Unterrichtsbeginn sollen sich je zwei Schüler / innen zu kooperativer Entwicklungsarbeit unter wechselseitiger Kontrolle zusammenfinden und sich ihre Entwicklungsziele gegenseitig mitteilen. 

 

Abbildung 3 zeigt dafür ein Beispiel.

Am Ende des Schultages wird dann mit dem „kritischen Freund" als „Entwicklungshelfer" abgerechnet. Im Laufe der Woche ergibt sich so ein Lernentwicklungsbericht, den der Schüler bzw. die Schülerin mit Unterstützung seines bzw. ihres Lernpartners / Lernpartnerin selber schreibt. Damit wird deutlich: Die Förderung der Lern-, Sozial- und Selbstkompetenz wird in den Verantwortungsbereich der Schüler gegeben. Der implizite Lehrplan dieser didaktischen Konzeption betont die Selbstverantwortung der Lernenden und entlastet die Lehrkräfte.

Diese Verantwortungsverlagerung auf den Lerner und seine Mitlerner ist als entscheidende Vorbereitung auf lebenslanges Lernen zu verstehen, d.h. für jene viel größere Lebensspanne, in der keine Lehrkraft mehr Lernimpulse gibt.

Überträgt man dieses Konzept des kooperativen Lernens auf Lehrkräfte, so ergäbe sich folgendes Modell (vgl. Abbildung 4).

Lehrkräfte sollten dann ebenfalls im Kontakt mit kritischen Freunden Entwicklungsziele in drei Richtungen formulieren und ihren Aufwand an Zeit und Phantasie dafür kontrollieren. Der schwarze Punkt im Koordinatensystem stünde dann für eine Lehrperson, die sich in der letzten Woche intensiv für ihre Schüler / innen und weniger intensiv für ihr Kollegium eingesetzt hat. Mit Blick auf ihre Selbstentwickung hätte diese Person keine Aktivitäten unternommen. Wenn nun eine Lehrkraft mit diesem Koordinatensystem ihr praktiziertes Zeitmanagement der letzten Woche mit ihren subjektiven Wunschvorstellungen vergleicht, kommt es zu einem Effekt, den Argyris (1990) beschreibt.

Er differenziert in diesem Zusammenhang zwischen der „theory in use" von Change-Agents, die ihrer Handlungspraxis entspricht, und ihrer „exposed theory", die die Wunschvorstellungen über zielführende Praxis wiedergibt. Personen mit ähnlichen Diskrepanzen könnten nun in kleinen Gruppen für eine begrenzte Zeit gemeinsam an ihren Entwicklungszielen arbeiten. Die Diagnose im Koordinatensystem bietet aber den Vorteil, dass man die Aktivitäten der Lehrkraft - in unserem Beispiel für ihre Schüler / innen und für das Kollegium - nicht als Verhaltensexzess bzw. als Vermeidungsverhalten im Sinne der Verhaltenstherapie kritisieren muss, sondern als Stärken begreifen kann, die durch gezielte Ergänzungen auf dem Gebiet der Selbstentwicklung balanciert werden sollten.

Der konsequente Einsatz kooperativer Lernformen könnte bei Schülerinnen und Schülern wie Lehrkräften einen Rollenwechsel begünstigen: Sie würden als aktive Lerner in Peergruppen Lernentwicklungspläne und -berichte über und für sich selbst schreiben. Die Schüler / innen können sich von passiven Bildungsempfängern zu selbstverantwortlichen Lernern entwickeln, die sich um ihren Lernstoff, um ihre Gemeinschaft und ihre Selbstentwicklung kümmern und gleichzeitig als Lern- und Entwicklungsberater / in eines Mitschülers / Mitschülerin fungieren. Gleiches gilt für Lehrkräfte. Sie verlassen die Rolle des Bildungs- und Erziehungsvermittlers und wandeln sich zu aktiven Lernern und Selbstentwicklern sowie zu Lern- und Entwicklungsberatern für ihre Kollegen / innen und Schüler / innen.

Die Vision ist attraktiv, dennoch ist kaum damit zu rechnen, dass sie in den kommenden Jahren flächendeckend Realität werden wird. Wie erklären sich Widerstände gegen diese und andere gut begründbare pädagogische Visionen?