Die tieferliegenden Ursachen für die gesundheitlichen Belastungen und Auffälligkeiten der Schülerinnen und Schüler sind in gesellschaftlichen Wandlungsprozessen zu suchen, die die "moderne Lebensweise" charakterisieren (1).

Die Auflösung traditioneller Lebensstrukturen und -muster sowie die zunehmende Individualisierung der Lebensweisen und Pluralisierung der Lebenswelten bergen für die Schülerinnen und Schüler neben den Optionen für eine selbstgewählte Lebensgestaltung durchaus erhebliche Belastungs- und Überforderungssituationen. Diese finden bei einem Teil von ihnen ihren Ausdruck in den beschriebenen Auffälligkeiten. Sie können deshalb auch als "Überbeanspruchungserscheinungen" (2) der Schülerinnen und Schüler gedeutet werden.

"Gesundheitsbeeinträchtigungen und Verhaltensauffälligkeiten drücken nach Auffassung der modernen medizinischen, psychiatrischen, psychologischen, soziologischen und pädagogischen Forschung die Probleme aus, die junge Menschen bei der Aneignung des eigenen Körpers und der sozialen und dinglichen Welt haben. Sie sind ein Signal für die nicht befriedigend gelingende Auseinandersetzung mit den Anforderungen und Herausforderungen, die sich ihnen stellen. Sie sind letztlich auch ein Indikator dafür, dass Kinder und Jugendliche nicht das Ausmaß von Achtung, Würde und Subjektivität erfahren und erlangen, das sie für ihre gesunde Entwicklung benötigen" (3).

Die ökologischen Grundlagen des Lebens haben sich im Zuge der Industrialisierung und der Technisierung der Welt tief greifend verändert und bringen immer wieder neue Gefährdungen mit sich. Es sei nur auf die Bedrohungen durch die fortschreitende Umweltverschmutzung und -zerstörung und auf die Belastungen des (kindlichen) Organismus durch Umweltgifte hingewiesen.

"Zu den am besten gesicherten Erkenntnissen über die körperlichen Auswirkungen verschiedener Umweltfaktoren bei Kindern gehören die Zunahme von Atemwegserkrankungen wie Bronchitis, Asthma oder auch Pseudo-Krupp, das verstärkte Auftreten allergischer Reaktionen und Erkrankungen, wie Neurodermitis oder Heuschnupfen, und die steigende Anzahl von Leukämie und Krebs. Auch Schädigungen des Kindes während der Schwangerschaft, eine allgemeine Schwächung des Immunsystems oder der zentralnervösen Störungen mit ihren Auswirkungen auf die Aufmerksamkeit und Intelligenzentwicklung sind die Folgen, die mit der Einwirkung von Umweltgiften in Zusammenhang stehen können." (4)

Der technologische Wandel nimmt entscheidenden Einfluss auf die Lebensweisen. Dies wird deutlich, denkt man beispielsweise an die "sitzende Lebensweise", in die viele Kinder und Jugendliche ihren Eltern nachfolgen, an die einseitige Stimulierung der Sinne durch die Medienkultur und an die überproportionale kognitive Beanspruchung.

"Da werden Strassen und Industriebauten errichtet, wo früher noch Spielen im freien Gelände möglich war; Beton und Asphalt beherrschen den Lebensraum (...); die ausschliessliche Orientierung an den Bedürfnissen der Erwachsenen führt zu einer monotonen Gestaltung der Umwelt (...). Selbst Spielplätze und Sportstätten, die zu Bewegung, Spiel und Sport auffordern sollten, sind häufig durch körperfremde Baumaterialien, Monofunktionalität, Einfallslosigkeit und Normorientierung gekennzeichnet (...). Solche Restriktionen der Bewegungsmöglichkeiten werden verstärkt durch die immer geringer werdende Notwendigkeit, sich mit den eigenen Kräften fortzubewegen (...). Schliesslich führt die Imitation des Freizeitverhaltens der Erwachsenen zu einer weiteren Reduzierung von Bewegungsaktivitäten bei vielen Kindern und Jugendlichen: Audio- und Video-Kassetten sowie Computerspiele bestimmen mehr und mehr ihren Lebensalltag und verhindern ein hinreichendes Ausmaß und die notwendige Vielfalt an Bewegungserfahrungen" (5)
Anmerkungen:

(1) vgl. Beck, U. (1986). Die Risikogesellschaft. Frankfurt: Suhrkamp
(2) Hurrelmann , K. (1990), a.a.O.
(3) Hurrelmann, K. (1990) , a.a.O., S. 3
(4) Dröschel, A. (1995). Eine Einführung. In Dröschel, A. (Hrsg.). Kinder, Umwelt, Zukunft (S.8-37). Münster: Votum, S. 13
(5) Kottmann, L., Küpper, D. & Pack, R.-P. (1993). Bewegung, Spiel und Sport als Bausteine einer "Gesunden Schule". In Priebe, B., Israel, G. & Hurrelmann, K. (Hrsg.): Gesunde Schule. Gesundheitserziehung, Gesundheitsförderung, Schulentwicklung (S. 250-266). Weinheim: Beltz

Ulrich Barkholz, Georg Israel, Peter Paulus, Norbert Posse: Gesundheitsförderung in der Schule. - Ein Handbuch für Lehrerinnen und Lehrer. Landesinstitut für Schule und Weiterbildung, Soest 1997.