Sollen diese unproduktiven Formen der Verarbeitung von Entwicklungs-und Problemdruck nicht immer mehr um sich greifen, benötigen Jugendliche gezielte Unterstützung und Hilfe. Schon im Kindesalter müssen diese Hilfen dem veränderten Lebensrhythmus Rechnung tragen. Dabei stellt sich die grundsätzliche Frage, ob die traditionellen Vorstellungen von der „Unmündigkeit" und „Unreife" von Kindern noch haltbar sind. Die Ergebnisse der Sozialisationsforschung über den Verlauf der menschlichen Entwicklung sind dazu angetan, falsche Vorstellungen von der „Unterentwicklung" der kindlichen Persönlichkeit zurückzudrängen und deutlich zu machen, dass jede Lebensphase des Menschen einen Abschnitt von eigenem Gewicht, eigener Subjektivität und eigenem Anspruch auf Entfaltung im Lebenslauf darstellt. Schon für die Lebensphase Kindheit sollte wie für jede andere Lebensphase ein angemessenes persönliches Gestaltungs- und Entfaltungspotential ermöglicht werden. In den heutigen westlichen Gesellschaften ist Kindheit eine Lebensphase aus eigenem Recht und mit eigener Dynamik. Schon das kleine Kind ist ebenso wie der Jugendliche, der Erwachsene und der alte Mensch ein produktiver Verarbeiter der äußeren und der inneren Realität und ein Gestalter der eigenen Persönlichkeit. Die anspruchsvolle individualisierte „Lebensphilosophie" unserer westlichen Kultur lässt sich zwischen Erwachsenen und Kindern nicht aufteilen. Für jede Altersphase gilt heute: Mit den Lebensanforderungen kommt nur die Person gut zurecht, die sich die soziale und physische Welt so aneignen kann, dass sie mit den individuellen Interessen und Bedürfnissen einhergeht. Dazu bedarf es der Entwicklung ausgeprägter Selbststeuerungsfähigkeiten, einer beständigen inneren Kontrolle der eigenen Handlungen und einer dauerhaften Selbstbeobachtung und Selbstreflexion.

Auch wenn kein Zweifel daran besteht, dass sich Selbststeuerungskompetenzen im Laufe der Kindheit schrittweise entwickeln, so zeigen die wissenschaftlichen Befunde der bisherigen Sozialisationsforschung doch deutlich, wie viele Bausteine für eine eigenständige Lebensführung heute schon bei Kindern vorhanden sind. Es gibt keinen Anlass, Kinder als „minderjährig" in dem Sinn zu verstehen, dass sie von Erwachsenen bevormundet werden dürften. Im Gegenteil, in vielen Bereichen sind die vorbehaltlosen, kreativen und unbefangen vorgetragenen Lösungsversuche von Kindern für die Probleme des Zusammenlebens und der Zukunftsgestaltung möglicherweise wegweisender als die von Erwachsenen.

Im Jugendalter werden diese Lösungsversuche „bewusstseinsfähig". Jetzt kommt es zu einer strukturellen Spannung zwischen persönlicher Individuation und sozialer Integration. Jugendliche müssen eine schnelle Veränderung ihrer psycho-physischen Disposition in einer Zeitspanne bewältigen, in der von ihnen mit massivem Nachdruck soziale Anpassung ­insbesondere schulische Bildungsleistungen und berufliche Qualifizierungen -verlangt werden.

Auch in früheren historischen Epochen war das Jugendalter durch eine intensive Auseinandersetzung mit der eigenen Person, dem Körper und der Psyche charakterisiert. Heute scheint dieser Prozess aber erheblich mehr innere Kräfte zu binden als früher. Das Finden der Identität und das Verbinden der personalen und sozialen Identität beschäftigt viele Jugendliche bis in das dritte Lebensjahrzehnt hinein. Ein ständiges Suchverhalten und das Bemühen, sozialen Halt und Gewissheit zu gewinnen, sich zugleich aber keine Optionen für die weitere Entwicklung zu verschließen und keine Lebenschancen zu verpassen, eine Grundmentalität des ständigen Umwelt-Monitoring mit einer Haltung von „Ego-Taktik", sind für Jugendliche heute charakteristisch (siehe die letzte Shell-Jugendstudie 2002).

Die Jugendphase bereitet den Eintritt in die berufliche, rechtliche, politische, kulturelle, religiöse, familiale, partnerschaftliche und sexuelle Selbstständigkeit der Erwachsenenphase vor. Aber die Vorgaben und Rahmenbedingungen für diesen Übergang sind heute äußerst diffus. Jugendliche leben im Medien-und Konsumbereich und bei der Gestaltung von Freundschafts-und Liebesbeziehungen ein Leben mit relativ hohen und Erwachsenen ähnlichen Graden von Selbstständigkeit, aber sie gehen erst spät - wenn überhaupt - eine Familiengründung an und befinden sich als Schüler und Auszubildende in einem langen Abhängigenstatus und der Situation der ökonomischen Unmündigkeit (Mansel und Hurrelmann 1991). Sie müssen mit den Ungewissheiten der Zukunftsplanung rechnen und auf die Risiken von Arbeitslosigkeit, Umweltbelastung, Gesundheitsschädigung und Kriegsgefahr eingerichtet sein. Viele Jugendliche bedrückt die Angst, ob sie als Erwachsene überhaupt noch ein lebenswürdiges Dasein führen können und die Welt für sie bewohnbar bleibt (Mansel 1995; Schulenberg, Maggs und Hurrelmann 1997).