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Herr Georgi, warum haben Sie die Kampagne "Voll im Leben" gestartet? Und warum der freche Stil?

Es geht uns darum, eine Diskussion anzuregen. Dazu kehren wir Vorurteile um. Wir wollen die Frage aufwerfen: Was ist denn das Problem? ‚Voll krank’ ist doch nicht der Mensch mit Behinderung, ‚voll krank’ ist es, ihn auszugrenzen. Wir setzen dem ein positives Bild entgegen: ‚voll im Leben’. Menschen mit Behinderung haben das Recht, ernst genommen zu werden, und das kommunizieren wir jetzt auch.

Haben Kinder und Jugendliche mit Behinderungen heute noch geringere Bildungschancen als ihre Mitschülerinnen und Mitschüler ohne Behinderung?

Auf alle Fälle. Es gibt Sackgassen im Bildungswesen. Obwohl viele Förderschulen sehr gute Arbeit leisten, schaffen es nur wenige Jugendliche in den ersten Arbeitsmarkt.

Ist es aus Ihrer Sicht für Kinder mit Behinderungen tatsächlich immer von Vorteil, auf eine allgemeine Schule zu gehen? Kann manchmal nicht auch der Besuch einer Förderschule sinnvoll sein, die oftmals ja auch sächlich und personell – etwa mit Pflegekräften und Therapeuten – hervorragend ausgestattet sind?

Die persönliche Betreuung an Förderschulen ist oft sehr gut. Aber ist das auch langfristig gut für das Kind? Das sehe ich nicht so. Es ist meines Erachtens nicht sinnvoll, Menschen mit Behinderung abgesondert in einem Schonraum aufwachsen zu lassen. Junge Menschen mit Behinderungen müssen lernen, sich außerhalb der geschützten Räume zu bewegen. Und die Gesellschaft muss lernen, mit Menschen mit Behinderung umzugehen. Dazu gehört es manchmal leider auch, komische Blicke auszuhalten. Richtig ist aber natürlich auch: Kinder etwa mit einer starken Sehbehinderung kann ich nicht einfach kommentarlos in den normalen Unterricht setzen. Dazu bedarf es der Unterstützung durch Fachkräfte.
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Was ist mit den Schülerinnen und Schülern ohne Behinderungen? Ist es für sie nicht ein Nachteil, wenn sich womöglich die Aufmerksamkeit der Lehrer auf ihre Klassenkameraden mit Behinderungen konzentriert?

Ich bin in den USA aufgewachsen. Dort ist es üblich, dass Kinder unterschiedlicher Herkunft, unterschiedlicher Leistungsfähigkeit miteinander lernen. Ich war ein guter Schüler. Am meisten gelernt habe ich aber, wenn ich anderen etwas erklären musste. Uns gegenseitig etwas beizubringen, das hat uns allen gut getan. Dazu kommt das soziale Lernen. Teamfähigkeit ist heute im Berufsleben eine Schlüsselqualifikation. Teamfähigkeit lerne ich, wenn ich mich auf andere einlasse, wenn ich mit Andersartigkeit umgehen muss. Das gilt für alle Schülerinnen und Schüler.

Wie muss ein gemeinsames Lernen organisiert sein, damit es erfolgreich ist?

Wichtig erscheint mir die Fähigkeit der Lehrerinnen und Lehrer, sich auf die unterschiedlichen Bedürfnisse der einzelnen Schüler einzustellen. Das betrifft ja nicht nur Kinder und Jugendliche, bei denen eine Behinderung offenkundig ist. Auch die vordergründig nicht-behinderten Schülerinnen und Schüler sollten individuell gefördert werden. Dazu benötigen Lehrer allerdings auch Zeit und Kapazität. Die Klassen dürfen nicht zu groß sein, und die Unterstützung durch Fachkräfte ist unverzichtbar.
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Was erwarten Sie – über den Bereich Schule hinaus – noch von der UN-Behindertenrechtskonvention?

Die Konvention erwartet etwas von uns. Hürden abzubauen, Barrieren einzureißen, also das zu tun, was selbstverständlich sein sollte. Wir können nicht einseitig von Menschen mit Behinderung fordern, sich anzupassen. Die Gesellschaft muss sich vielmehr ändern und sie annehmen. Behindert ist man nicht. Behindert wird man. Als Rollstuhlfahrer kann mich eine Türschwelle behindern. Ist sie weg, dann bin ich an dieser Stelle nicht mehr behindert. Es geht letztlich darum: Wie weit sind wir in der Lage, die Fähigkeiten eines einzelnen Menschen zu erkennen, seine Stärken und Facetten – das geht weit über Menschen mit Behinderungen hinaus.

Die „Aktion Mensch“ hieß früher „Aktion Sorgenkind“ – warum dieser Namenswechsel?

Wir wollten damit deutlich machen: Es geht nicht um bemitleidenswerte Behinderte, sondern um Menschen mit Selbstbewusstsein, die das Recht haben, dass wir sie als Menschen betrachten und eben nicht als Sorgenkinder.