Wenn wir heute über Gesundheit sprechen, tun wir dies unter einer veränderten Perspektive und in einem erweiterten Verständnis. Zu dieser veränderten Perspektive hat massgeblich die Ottawa-Charta der Gesundheitsförderung beigetragen, die 1986 auf der 1. Konferenz zur Gesundheitsförderung der Weltgesundheitskonferenz (WHO) in Ottawa (Kanada) verabschiedet worden ist .

Dieser Wandel lässt sich an verschiedenen Punkten festmachen, die im Folgenden kurz benannt sind:

Von der Abwesenheit von Krankheit zur positiven Bestimmung von Gesundheit

Unter Gesundheit wird heute ist nicht mehr nur die Abwesenheit von medizinisch definierter Krankheit verstanden. Gesundheit wird vielmehr positiv bestimmt. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat es in ihrer Definition der Gesundheit schon 1946 so formuliert: "Gesundheit ist der Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur die Abwesenheit von Krankheit und Gebrechen". Das, was unter "Wohlbefinden" verstanden werden kann, ist in den Folgejahren präzisiert worden.

Was ist unter "Wohlbefinden" zu verstehen?

Wohlbefinden lässt sich nach Mayring (1) durch vier Faktoren beschreiben:

  • Belastungsfreiheit (Abwesenheit von subjektiven Belastungen, Symptomen und negativen Gefühlen)
  • Freuden (Erleben kurzfristiger positiver Gefühle im Alltag)
  • Zufriedenheit (Abwägen positiver und negativer Lebensaspekte) und
  • Glück (positives Lebensgefühl, das über den konkreten Augenblick hinausgeht).

Von der objektiven Bestimmung der Abwesenheit von Krankheit zu einer subjektiven Bestimmung von Gesundheit

Gegenüber der medizinisch feststellbaren Freiheit von Krankheit betont schon die Definition der WHO das subjektive Empfinden des einzelnen als entscheidendes Kriterium von Gesundheit. Damit wird das Gesundsein hervorgehoben. Gesundheit, so die gegenwärtige Auffassung, lässt sich letztlich nicht objektivieren, sie ist ein individuelles Phänomen, dass dem einzelnen nur im Gesundsein erfahrbar wird.

Gesundheit und Krankheit sind nicht objektivierbar

"In der weit reichenden Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO) von 1946 ist sie (die Gesundheit) ein Zustand völligen körperlichen und seelischen Wohlbefindens. Demnach wäre ein AIDS-infizierter Mensch im Stadium II der Krankheit gesund, denn in diesem Stadium vermehrt sich zwar der Virus, ruft jedoch keinerlei Symptome hervor. Erst die Mitteilung der Diagnose wird den Patienten seelisch treffen, und er wird nach der gegebenen Definition krank. Nun weiß er nämlich, dass er mit einiger Wahrscheinlichkeit in fünf oder zehn Jahren zu Tode erkranken wird.
Auch der gut eingestellte Diabetiker oder der geistig behinderte Mensch wären gesund, solange sie sich körperlich und seelisch gesund fühlen.
Wir neigen dazu, in der Gesundheit nicht einen Zustand, sondern die Voraussetzung zu sehen, in einem gegebenen Umfeld befriedigend zu funktionieren. Doch was ist befriedigend?

Wenn der HIV-infizierte Mensch ein "sozial und wirtschaftlich produktives Leben zu führen imstande ist" (eine Gesundheitsdefinition der 30. Weltgesundheitsversammlung im Mai 1977) - ist er dann gesund? Ist er krank, wenn ihn das Wissen um dieselbe Infektion lähmt? Ist der nachlässige und schlecht eingestellte Diabetiker krank, der sich sorgfältig versorgende und daher voll leistungsfähige Patient mit dem objektiv gleichen Diabetes dagegen gesund?

Krankheit ist kein Ja-Nein-Phänomen. Man kann ein wenig krank oder schwer krank sein - und dies hängt nicht vom objektiven Befund und von der tatsächlichen Prognose ab, sondern davon, wie man den Zustand empfindet. Nein, Gesundheit und Krankheit sind keine objektivierbaren Tatbestände." (2)

Von einer organismischen zu einer personalen Bestimmung von Gesundheit

Substrat des Gesundseins ist nicht mehr der lebendige Organismus sondern die erlebende Person. Unter einer Person wird ein zur bewussten Selbstreflexion, zur Planung und zielgerichteten Steuerung und Bewertung des eigenen Verhaltens fähiges Wesen verstanden.

Menschen als Personen

Menschen werden danach als Wesen betrachtet,

  • die fähig sind, vorausschauend, planend, nach eigenen Zielvorstellungen im Sinne der "Selbstregulation" zu handeln,
  • die in der Lage sind, zurückschauend ihre eigenen Erfahrungen berücksichtigend, "biografische Kontinuität" wahrend, zu handeln,
  • die sich selbst zum Gegenstand ihrer Aufmerksamkeit und Wahrnehmung machen können und zwischen ihren Erfahrungen und der eigenen Person einen "sinndeutenden" Bezug herstellen können,
  • die fähig sind, zu kommunizieren, Beziehungen einzugehen, die Perspektive anderer in ihrem Handeln zu berücksichtigen, sich Erwartungen anderer unterzuordnen oder sich von diesen zu distanzieren,
  • die mit ihrer Umwelt in einer transaktionalen Beziehung, in einem "wechselseitigen Austauschprozess" stehen. (3)

Von einem selbstbezogenen zu einem situationsbezogenen Verständnis von Gesundheit

Die Person steht nicht für sich allein. Sie befindet sich in beständiger Interaktion mit ihrer materiellen und sozialen Umwelt, durch die sie ihr Überleben und ihre Selbstentfaltung zu sichern sucht. Deshalb ist Gesundheit immer im Lebenskontext der Person zu betrachten und zu bewerten. Gesund ist eine Person immer nur in Bezug auf ihre spezifischen Lebensumstände.

Von einem statischen zu einem dynamischen Verständnis von Gesundheit

Gesundsein einer Person bemisst sich nicht mehr allein an ihrem Wohlbefinden. Diese Sichtweise gibt ein zu statisches Bild von Gesundheit. Das Wohlbefinden ist vielmehr als Voraussetzung und Resultat eines aktiven Austauschprozesses zu verstehen, in dem die Person engagiert ist. Je nachdem wie es der Person gelingt, in der Auseinandersetzung mit den Anforderungen ihrer Um- und Mitwelt, auch die eigenen Bedürfnisse, Wünsche, Anliegen und Hoffnungen in befriedigender Weise zur Geltung zu bringen, ist sie mehr oder weniger gesund. Diese individuelle Balance, die sich im gelingenden Fall einstellen mag, ist wiederum nicht statisch und von Dauer, sondern muss von der Person in jedem Moment ihres Lebens wieder neu hergestellt werden. Gesundsein ist deshalb kein fernes Ziel, sondern eine andauernde aktive Leistung des Individuums, in der sie versucht, verschiedene Anforderungen miteinander in Einklang zu bringen.

Gesundheit als dynamische Balance der produktiven Verarbeitung von äusseren und inneren Anforderungen sowie der Verwirklichung selbstbestimmter Wünsche, Anliegen und Hoffnungen (4)

Von den Gesundheitswissenschaften (5) sind die sog. Ressourcen oder salutogenen (6) Faktoren untersucht worden, die es den Personen ermöglichen, eine solche dynamische Balance aufrechtzuerhalten. Am bekanntesten sind die salutogenen Faktoren geworden, die Aaron Antonovsky (7) in seinem Konstrukt des "Kohärenzgefühls" zusammengefasst hat (8). Er beschreibt darin drei Faktoren, die inzwischen von vielen Forschern als die zentral bedeutend für die Gesundheit angesehen werden:

  1. Verstehbarkeit ("Comprehensibility") umschreibt das Ausmaß, in dem die Reize und Situationen mit denen eine Person alltäglich konfrontiert wird, Sinn machen und von ihr kognitiv als klare, geordnete Information verstanden wird.
  2. Bewältigbarkeit ("Managebility") meint das Ausmaß, in dem eine Person die Anforderungen, die auf sie zukommen, mit den ihr verfügbaren Ressourcen als bewältigbar wahrgenommen wird.
  3. Sinnhaftigkeit ("Meaningfulness") bezieht sich auf das Ausmaß, in dem das eigene Leben emotional als sinnvoll erlebt wird und die Probleme und Anforderungen des Lebens als solche erlebt werden, für die es sich einzusetzen lohnt.


Von einem eindimensionalen zu einem mehrdimensionalen Verständnis von Gesundheit

Wenn heute von Gesundheit die Rede ist, dann meint man nicht mehr nur die körperliche Gesundheit allein. Hier hat auch schon die Definition der Weltgesundheitsorganisation von 1946 ein wichtiges Zeichen gesetzt. Gesundsein heisst danach auch, sich psychisch und sozial wohl zu befinden. In jüngster Zeit wird auch das ökologische und spirituelle Wohlbefinden mit einbezogen.

In der dynamischen Balance der produktiven Verarbeitung sind damit auch die lebensweltlichen Bezüge der Person, wie auch die Sinndimension ihres Lebens angesprochen. Gesundsein ist damit zu einem vielschichtigen komplexen Phänomen geworden, das am ehesten durch systemisch-vernetztes Denken adäquat erfasst werden kann (9).
Anmerkungen:

(1) Mayring, P. (1991):Die Erfassung subjektiven Wohlbefindens. In Abele, A. & Becker, P. (Hrsg.). Wohlbefinden. Theorie, Empirie, Diagnostik (S. 51-71). Weinheim: Juventa.

(2) Spranger, J. (1996). Heilen, Lindern, Trösten. Spiegel spezial. Die Ärzte: Zwischen Megatechnik und Magie, 7, 20-25.

(3) In Anlehnung an Petillon, H. (1993). Soziales Lernen in der Grundschule. Frankfurt: Diesterweg, S. 18f

(4) Paulus, P. (1996). Schulische Gesundheitserziehung und Gesundheitsförderung. Grundsätze und Anregungen für die Schulpraxis. Herausgegeben vom Kultusministerium des Landes Sachsen-Anhalt. Magdeburg: Kultusministerium, S. 12

(5) Hurrelmann, K. & Laaser, U. (1993). Gesundheitswissenschaften. Handbuch für Lehre, Forschung und Praxis. Weinheim: Juventa sowie Waller, H. (1995). Gesundheitswissenschsft. Eine Einführung in Grundlagen und Praxis. Stuttgart: Kohlhammer

(6) Salutogene Faktoren sind solche, die die Gesundheit erhalten und fördern. Die Salutogenese beschreibt die Bedingungen und Verläufe, warum Menschen gesund bleiben. Die Pathogenese beschreibt, warum sie erkranken.

(7) Antonovsky, A. (1979). Health, stress, and coping: New perspectives on mental an physical well-being. San Francisco: Jossey-Bass sowie Antonovsky, A. (1987). Unraveling the mystery of health. How people manage stress and stay well. San Francisco: Jossey-Bass

(8) vgl. auch Faltermaier, T. (1994). Gesundheitsbewußtsein und Gesundheitshandeln. Über den Umgang mit Gesundheit im Alltag. Weinheim: Beltz

(9) vgl. Simon, F. B. (1995). Die andere Seite der Gesundheit. Ansätze einer systemischen Krankheits- und Therapietheorie. Heidelberg: Auer

Ulrich Barkholz, Georg Israel, Peter Paulus, Norbert Posse: Gesundheitsförderung in der Schule. - Ein Handbuch für Lehrerinnen und Lehrer. Landesinstitut für Schule und Weiterbildung, Soest 1997.
nd Gesundheitshandeln. Über den Umgang mit Gesundheit im Alltag. Weinheim: Beltz

(9) vgl. Simon, F. B. (1995). Die andere Seite der Gesundheit. Ansätze einer systemischen Krankheits- und Therapietheorie. Heidelberg: Auer

Ulrich Barkholz, Georg Israel, Peter Paulus, Norbert Posse: Gesundheitsförderung in der Schule. - Ein Handbuch für Lehrerinnen und Lehrer. Landesinstitut für Schule und Weiterbildung, Soest 1997.